Interview mit René Fraefel
René Fraefel: «Es ist wichtig, zur eigenen Kirche zu stehen»
Interview: Monique Henrich
Seit Juni 2022 ist René Fraefel (57) Präsident der Kirchgemeinde des Kantons Zürich: Wie meistert er diese zeitintensive Aufgabe neben seinem anspruchsvollen Beruf als Bereichsleiter der Betriebszentrale der SBB? Wie will er die Kirche den Menschen näherbringen? Wie die Jugendlichen ansprechen? Und was hat ihn zum Übertritt in die christkatholische Kirche motiviert?
Seit rund 18 Monaten sind Sie Präsident der christkatholischen Kirchgemeinde des Kantons Zürich. Was hat Sie bewogen dieses Amt anzunehmen?
René Fraefel: Weil mich mein Vorgänger, Urs Stolz, angefragt hat. Ausschlaggebend war aber, dass ich mich im sozialen Bereich engagieren wollte. Unsere Kirche kannte ich bereits gut, wusste wie sie funktioniert und hier kann ich auch meine Erfahrungen aus dem beruflichen Bereich, etwa bei den Finanzen, der Personal- und Teamführung, einsetzen.
Haben Sie sich gut eingelebt?
Ja - ich bin aber immer noch daran. Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit dem Präsidenten der liberal-jüdischen Gemeinde und er meinte, dass er vier Jahre dazu gebraucht hat. Mittlerweile denke ich, dass es wirklich eine gewisse Zeit braucht, um alle Abläufe zu verstehen, auch um die Menschen kennenzulernen.
Was möchten Sie anders machen als ihr langjähriger Vorgänger?
Ich muss einiges anders machen, weil ich gar nicht so präsent sein kann wie Urs Stolz das war. Ich bin zu hundert Prozent beruflich eingebunden. Doch auch für die Mitglieder der Kirchenpflege ist es eine Umstellung: Ich delegiere mehr und übergebe mehr Verantwortung. Anstehende Themen werden im Team besprochen, Entscheide und Lösungen gemeinsam erarbeitet. Wir wollen als Gremium eine Meinung haben und dahinterstehen, nicht nur ich als Präsident. Das kommt sehr gut an, auch wenn unsere Sitzungen länger dauern.
Demokratie ist gut und recht, aber entscheiden muss am Schluss einer und das ist der Präsident.
Gemäss Kirchenordnung unserer Gemeinde werden unsere Entscheidungen im Gremium und nicht zum vornherein von mir gefällt. Die Kirchenpflege soll nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
Was haben Sie als Präsident erwartet?
Eine gut funktionierende Kirchenpflege, Ordnung in den Finanzen und eine gute Verankerung, auch in der Politik. Die Voraussetzungen haben sich bewahrheitet. Während eines Jahres hat mich Urs Stolz den verschiedenen Organisationen, Kommissionen und auch dem Regierungsrat vorgestellt. Er hat mich in diesem Sinn gut eingeführt.
Was war unerwartet?
Traditionen und Gewohnheiten, die ich nicht kannte. Also Sachen, die nirgendwo geschrieben stehen, aber die man halt immer so gemacht hat. Und, im Berufsalltag muss ich schnelle Entscheide treffen, die dauern bei uns länger, weil wir uns monatlich treffen und erst dann in der Regel über Anstehendes entschieden wird.
Was fällt Ihnen im neuen Amt besonders auf?
Dass der Präsident so etwas wie eine Einzelrolle hat: Man wird sehr stark als Präsident wahrgenommen, ich finde das eigentlich überbewertet. Ach ja, ich habe manchmal einen schrägen Humor und vielleicht einen Spruch auf der Lippe der nicht immer als solcher verstanden wird. Da muss ich noch ein bisschen aufpassen.
Sie stehen mitten im Berufsleben und sind bei den SBB an verantwortungsvoller Stelle. Ist Ihr Zeitmanagement schwieriger geworden?
Ich bin Bereichsleiter bei den SBB und leite zehn Teams mit rund 200 Mitarbeitenden. Mein Arbeitgeber stellt mir zehn Tage pro Jahr für mein öffentliches Engagement zur Verfügung, in meinem Fall für das Amt des Kirchgemeindepräsidenten. Diese Zeit reicht natürlich nicht. Wichtig ist mir aber, dass meine Ehefrau Regula mich von Anfang an unterstützt hat und auch einverstanden war, dass ich das Amt übernehme.
Wo sehen und setzen Sie Ihre künftigen Prioritäten?
Ich setze voll auf die Seelsorge, auf aktive Leistungen, die unsere Gemeinde erbringen kann. Mitglieder mit Ideen und Engagement sollen bei uns auf offene Türen stossen. Sie dürfen auch Fehler machen, oder mit einem Versuch scheitern, das gehört dazu. Wir müssen uns keinem Diktat einer «Überkirche» beugen: Etwas neu zu gestalten, zu bewegen – das ist die anstrengende und auch die grossartige Chance unserer liberalen Kirche.
Was möchten Sie in unserer Gemeinde bewegen?
Leute ermutigen zum Anpacken! Nicht einfach miteinander Altwerden. Wer ein neues Amt übernimmt, soll nicht per se dazu verdonnert sein, das jahrelang ausüben zu müssen. Eine neue Dynamik, die bewegt und die auch akzeptiert wird, das müssen wir miteinander schaffen, das ist nicht meine alleinige Aufgabe.
Es ist mir auch wichtig eine Kultur der konstruktiven Meinungsverschiedenheit zu schaffen.
Das Präsidium unserer Kirchgemeinde besteht auch aus viel Hintergrund- und Kleinarbeit – was ist dabei die grösste Herausforderung?
An möglichst viel zu denken, niemanden zu vergessen, korrekt zu sein, auch formell, Informationen an den richtigen Absender weiterzugeben. Wo mir noch Routine fehlt, ist das Unterscheiden von Wichtigem und weniger Wichtigem. Da kann ich mich aber auf das Gremium verlassen. Vielmehr beschäftigen mich die grossen Themen.
Was sind die grossen Herausforderungen?
Was klar im Raum steht und das ganze Bistum betrifft, ist das Thema Trennung von Kirche und Staat. Wie gehen wir damit um als Kirchgemeinde? Wie fest können wir eigenständig bleiben? Angenommen, die Kirchensteuer würde wegfallen, wie könnten wir weitergehen?
Wir hängen ja nicht allein von der Kirchensteuer ab.
Ja, wir haben zwar Immobilien, aber wir sind Kirche, keine Immobilienfirma. Die Kernkompetenz einer Kirche ist die Seelsorge, nicht die Liegenschaftsverwaltung. Der Staat sieht und schätzt durchaus auch die sozialen Leistungen, die wir als Kirche erbringen. Aber die Richtung ist klar und wir können nicht davon ausgehen, dass alles so weitergeht wie bisher.
Wie wollen Sie die Menschen motivieren, sich für die Kirche zu engagieren und ihr treu zu bleiben?
Die Menschen sollen sich in unserer Kirchgemeinde wohlfühlen, eine Gemeinschaft erleben, die sie sonst nirgendwo erleben. Dazu gehört, ihnen einen spirituellen Halt anzubieten und zu vermitteln.
Früher gab es das Diktat des Kirchenbesuchs. Wie überzeugen Sie heutzutage junge Menschen zu Gottesdienstbesuchen?
Schwierig. Ich schaffe das mit dem regelmässigen Gottesdienst mit meinen Kindern ja auch nicht: An Weihnachten oder Ostern ist ok. Mein Sohn hat unregelmässige Dienstzeiten, meine Tochter studiert, die haben andere Prioritäten, genauso wie es bei mir damals auch war. Wichtig finde ich, dass wir den Kontakt zu den jungen Menschen nicht verlieren. Meine Kinder finden es noch schön, zwischendurch eine Message von der Kirche zu erhalten. Sie müssen nicht unbedingt am Sonntagmorgen in die Kirche, aber sie müssen spüren, dass die Kirche da ist.
Was ist Ihnen auch als Synode-Delegierter innerhalb des Bistums ein Anliegen für das Sie sich einsetzen werden?
Als Mitarbeiter der SBB komme ich aus einem grossen, schweizweiten Betrieb. Hier sehe ich, wie die Verwaltung vereinfacht wird und damit meine ich, dass wir uns in den Gemeinden mit Dingen auseinandersetzen müssen, die zentral erledigt werden könnten, ohne dass den Gemeinden die Freiheit genommen wird, einen eigenen Weg zu gehen. Ich denke da an Aufgaben, zum Beispiel mit der Verwaltung der Liegenschaften, oder in Personalfragen, die in Zukunft zentral einfacher erledigt werden könnten. Natürlich immer unter der Voraussetzung der regionalen Unterschiede und Gegebenheiten. Die Gemeinden sollen klar eine gewisse Eigenständigkeit behalten.
Auch die Kirchen stehen mitten im technischen Wandel. Wie sollen wir uns in die Social Media einbringen?
Wenn wir den Kontakt zu der Generation behalten wollen, die die Mittel der Social Media benutzen, müssen wir die verschiedenen Kanäle aktivieren. Ich wünschte mir jüngere Mitglieder, auch in der Kirchenpflege, denen das Kommunizieren auf diesen Kanälen eine Selbstverständlichkeit ist. Daneben soll die traditionelle Form des schriftlichen Kontakts für die Generation, die das wünscht, ebenso Platz haben.
Wo denken Sie, kann sich die Kirche wieder vermehrt einsetzen, um spirituell näher an die Menschen zu kommen ohne als «Frömmler» zu gelten?
Indem wir die Menschen spüren lassen, dass es diese spirituelle Nahrung gibt. Die Frage stellt sich aber: Wie können wir diese Nahrung so geben, dass sie ankommt? Genügt es, am Sonntagmorgen den Gottesdienst zu besuchen, die Kommunion zu feiern? Fühle ich mich wohl in dieser Gemeinschaft zu feiern? Genug geborgen? Unsere Kirche soll das Angebot der Zusammengehörigkeit, betonen. Das ist ja auch der Vorteil unserer überschaubaren Grösse. Dazu gehören auch Gemeindereisen und Geburtstagsparties, aber die gemeinsame Spiritualität, das gemeinsame Aufbauen, das gehört eben auch dazu. Mir ist es wichtig, dass wir diese Qualität der Gemeinschaft pflegen und herausheben.
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben noch nie von der christkatholischen Kirche gehört. Sollten wir besseres «Marketing» machen?
Wenn damit die klassische Werbung gemeint ist, nützt sie gar nichts und dazu hätten wir auch gar nicht die Mittel. Ich denke es ist wichtig, zur eigenen Kirche zu stehen. Ich selbst merke im Berufsleben, wie erstaunt aber auch respektvoll mein Umfeld reagiert, wenn ich wie selbstverständlich von meinem kirchlichen Engagement rede. Und wenn sich jemand über die Verfehlungen oder die Sturheit der römisch-katholischen Kirche aufregt, platziere ich gern die Einladung, unsere Kirche als gute Alternative, kennenzulernen.
Sie sind zur Christkatholischen Kirche übergetreten. Was hat Sie dazu bewogen?
Wir sind 1994 vor unserer Hochzeit konvertiert. Meine Frau und ich sind beide in einem Elternhaus, das in der römisch-katholischen Kirche verankert ist, aufgewachsen. Doch als sich dann die Querelen im Zusammenhang mit Bischof Haas zugespitzt haben, wurde uns zunehmend unwohl. Per Zufall, in der Spitalkirche in Winterthur, begegneten wir Pfarrer Konrad und waren ganz erstaunt, als er von seinen Kindern berichtete. Wow – ein Pfarrer, der sich als Vater outet! Wie sich dann herausstellte, haben wir, ohne es zu wissen und zu merken, an einem christkatholischen Gottesdienst teilgenommen. Wir haben uns dann eingehend informiert, den Schritt gut überlegt, aber für uns war immer klar: Es war eine Alternative, die für uns stimmt. Uns ist eine ehrliche Kirche wichtig.
Was hat dieser Wechsel mit Ihren religiösen Gefühlen gemacht?
Für uns war das eher eine organisatorische Frage, auch weil wir mit der doppelbödigen Moral nicht mehr umgehen mochten.
Sind Sie ein gläubiger Mensch, dem auch das Gebet wichtig ist?
Ja, ich brauche das Gebet, um danke zu sagen und um etwas zu bitten - das habe ich bereits als Kind von meinen Eltern mitbekommen.